UND WIE MACHST DU DAS, MARCELLA?
EIN MUTTERFRAGEBOGEN


Heute mal wieder ein neuer Mutterfragebogen. Beantwortet hat ihn Marcella, die in einem Dorf bei Bremen wohnt und auf ihrem Weblog „Anders und doch normal” vom Leben mit ihrem Sohn Evan schreibt.

Name: Marcella
Alter: 32
Mutter von: Evan (4)
Stadt: ein Dorf bei Bremen

Wie ist bei dir die Kinderbetreuung organisiert?
Nach einigen Anlaufschwierigkeiten mittlerweile zum Glück sehr gut. Mein Sohn Evan ist vier Jahre alt und geht in einen heilpädagogischen Kindergarten. Er ist mit einem sehr schweren Herzfehler auf die Welt gekommen und hat schon einige Operationen hinter sich bringen müssen. Zudem haben wir mit drei Jahren die Diagnose „Frühkindlicher Autismus” erhalten. Er spricht fast gar nicht und sieht das Leben aus einer ganz besonderen Sicht. In Evans Welt gehören alle Gitarren – oder was ihnen ähnlich kommt, wie Bratpfannen, Klobürsten oder Handfeger – ihm. Eine Welt, in der es nur Laugengebäck und Nudeln gibt. Eine Welt, in der die Reihenfolge der Autos eine größere Rolle spielt als die Autos selbst. Eine Welt voller Kikaninchens und Gummibären. Eine Welt, in der Musik eine große Rolle spielt. Evans Welt. Diese besondere Welt mit dem realen Alltag organisatorisch unter einen Hut zu bekommen, ist relativ schwierig. Zum Glück geht Evan sehr gerne in den Kindergarten und freut sich jeden Morgen aufs Neue, wenn unser lieber Busfahrer ihn von zu Hause abholt. Ich arbeite halbtags, manchmal auch am Nachmittag. Mittlerweile habe ich ein sehr gutes Netzwerk. Einmal die Woche kommt Elisabeth vom ambulanten Kinderhospizdienst und betreut Evan am Nachmittag, und einmal die Woche verbringt Evi von „Gemeinsam  e.V.” einen Nachmittag mit ihm. Evan hat auch ganz wunderbare Großeltern, die sich gerne und viel um ihn kümmern, so dass ich am Wochenende auch mal etwas alleine unternehmen kann.

Unter welchen Bedingungen arbeitest du? Wie funktioniert das für dich?
Ich arbeite 25 Stunden die Woche als Fremdsprachenkorrespondentin an der Uni Bremen. Meistens am Vormittag, aber hin und wieder bin ich auch am Nachmittag bei der Arbeit anzutreffen. Mir ist meine Arbeit sehr wichtig. Ich habe lange in Brüssel gelebt und gearbeitet und war in meinem Job sehr glücklich. Aus Brüssel ist mittlerweile ein kleines Dorf bei Bremen geworden, und auch beruflich musste ich mich sehr verändern. Ich konnte früher in meinem Beruf sehr viel reisen und verschiedene Veranstaltungen der Europäischen Kommission und des Europaparlamentes besuchen. Ich habe im Bereich Public Affairs (Öffentlichkeitsarbeit) für eine schwedische Firma gearbeitet. Früher stand mein beruflicher Werdegang an erster Stelle. Heute ist es Evan. Nichtsdestotrotz möchte ich die Arbeit nicht missen, denn das ist mein Ausgleich. Sonntagabends denke ich nicht „Oh nein, morgen ist schon wieder Montag”, ich freue mich und fahre jeden Morgen mit einem Lächeln zur Arbeit. Ich glaube, wenn ich diesen wichtigen Ausgleich nicht hätte, würde ich den Alltag mit meinem Sohn nicht meistern. 


Wieviel Zeit hast du für dich – jenseits deiner beruflichen und familiären Aufgaben? Reicht sie dir?
Ich habe mittlerweile gelernt, mir meine Inseln zu schaffen. Das sind manchmal nur kleine Momente. Auf dem Spielplatz in der Sonne zu sitzen und dabei Sushi zu essen und einen Sekt aus der Dose zu trinken. Ich nehme auch gerne weite Autofahrten in Kauf, um einen verlassenen Spielplatz oder ein Waldgebiet zu finden. Sich Inseln zu schaffen und zu haben ist lebenswichtig. Mittlerweile habe ich auch gelernt, mir meinen Raum – auch mit Evan – zu nehmen. Was ich früher als „mich aufgeben” empfunden habe, ist mehr zu einer Art Hingabe oder Aufgabe geworden. Mit Evan zusammen ich selbst zu bleiben, musste ich erst lernen, und ich lerne immer wieder dazu. Durch die tolle Unterstützung, die ich mittlerweile erhalte, kann ich meiner großen Leidenschaft nachgehen: dem Reiten. Zudem habe ich auch noch eine zweite Leidenschaft entdeckt: das Bloggen. Ich habe seit einigen Wochen einen Blog, in dem ich über unseren einzigartigen Alltag berichte.


Wie sieht euer Alltag aus?

Es ist oft schwierig zu beschreiben, wie Evans Autismus-Erkrankung unseren Alltag bestimmt. Wenn ich ihn ansehe, sehe ich nicht die Erkrankung, sondern ein einzigartiges und besonderes Kind mit einzigartigen und sehr besonderen Bedürfnissen. Heutzutage ist es allerdings schwierig, diese Bedürfnisse ausleben zu können und in unseren Alltag zu integrieren. Evan liebt sein Gummibärchen und seine Kikaninchen. Meistens sind sie mit dabei, wenn wir das Haus verlassen. Manchmal muss aber auch noch das Bobbycar oder sein Laufrad mit, sonst können wir nicht losfahren. (Es gibt Tage, da können wir wirklich nicht losfahren, weil ich Evan nicht überreden kann, in seinen Kindersitz zu gehen). Das Auto ist also eigentlich schon vor dem Einkauf voll (ich habe einen Kleinwagen). Wenn der Rehabuggy dann auch noch im Kofferraum ist, sieht es schon fast so aus, als ob wir in Urlaub führen. Evan und ich haben einen Lieblingswald, in dem wir sehr gerne spazieren gehen oder Evan Laufrad fährt. Leider dürfen wir immer nur den gleichen Weg gehen. Seit knapp zwei Jahren.

Evan schwimmt sehr gerne. Er liebt Wasser. Egal welches, ob See, Fluss, Pfütze, Teich oder Regentonne. Wenn er Wasser sieht, will er hineingehen. Leider lassen ihn meine Argumente, nicht in jedes Gewässer zu jeder Jahreszeit gehen zu können, kalt. Ich habe ihn schon aus etlichen Teichen oder Regentonnen holen müssen. Evan schmeißt auch mit Vorliebe Gegenstände in die Luft oder von der Treppe, ganz egal, wo wir sind. Am liebsten mag er zerbrechliche Gegenstände, weil die so schön laut sind, wenn sie den Boden berühren. Meine Heißklebepistole ist mittlerweile mein bester Freund geworden. Ich glaube, es gibt fast keinen Dekogegenstand mehr, der nicht geklebt worden ist, und das sieht man ihnen leider auch an. Neuerdings hat er auch das Autofenster für sich entdeckt. Nachdem Evan auf der Autobahn angefangen hatte, Gegenstände aus dem Fenster zu werfen, habe ich sehr schnell erkannt, dass ich meine Fensterkurbel abbauen muss. Evan ist, was seine Freunde betrifft, nicht gerade zimperlich. Meistens laufen sie vor ihm weg. Leider mag er dieses Spiel und freut sich, wenn sie schreien. Evans Lieblingsgebärde ist fertig. Er ist allerdings der festen Überzeugung, dass auch wirklich alles gleich – sofort – fertig sein muss, wenn er diese Gebärde benutzt. Die Gebärde Warten kennt er noch nicht. Anstehen und Warten existieren in Evans Welt nicht. Eigentlich bestimmt der Autismus unser ganzes Leben. Der Autismus gehört zu Evan. Es ist unser Leben und nicht nur eine Diagnose. Es ist der Alltag, der mich und Evan immer wieder aufs Neue fordert. In einer Welt zu bestehen, die nicht autistengerecht ist.

Hast du dir das Muttersein so vorgestellt, wie es ist? Was hast du dir anders vorgestellt?
„Wir müssen bereit sein, uns von dem Leben zu lösen, das wir geplant haben, damit wir das Leben finden, das auf uns wartet”: Dieser Spruch von Joseph Campbell begleitet mich jetzt schon seit einiger Zeit – eigentlich seit dem Tag, als ich von Evans Herzfehler erfahren habe. Durch seine Herzdiagnose und seinen Autismus hat sich mein Leben von heute auf morgen geändert. Jetzt werden viele Eltern mit gesunden Kindern sagen, dass jeder, der Kinder hat, diese Einschränkungen kennt und hat. Und das stimmt auch. Allerdings sind sie mit einem behinderten Kind viel einschneidender. Oftmals hat man das Gefühl, dass man sich komplett aufgeben muss. Und ich glaube, dass passiert auch zum Teil. Früher hatte ich die Vorstellung, dass sich mein Kind an mein Leben anpassen muss und nicht andersherum. Ich habe mich mit meinem Kind schon auf tollen Konzerten gesehen (mit riesigen Kopfhörern versteht sich). Museen besuchen, zusammen auf Reisen gehen, einfach gemeinsam die Welt entdecken. Reisen könnte ich jetzt nach Schweden in ein einsames Landhaus, und bei unserem letzten und einzigen Museumsbesuch hat Evan einem ausgestopftem Tier den Kopf abgerissen. Seine Kinderpsychologin sagte einmal etwas sehr Ehrliches zu mir: „Ihr Kind wird ihr Leben bestimmen und nicht andersherum.” Damals wollte ich es nicht wahrhaben, aber sie hatte recht. In erster Linie bestimmt Evan, was wir wann, wo und vor allem WIE machen. Natürlich gibt es Regeln und ich entscheide, wann wir einkaufen gehen, aber seine Autismus-Erkrankung bestimmt unser ganzes Leben und ganz besonders unseren Alltag.

Manchmal überkommt es mich, und ich reiße voller Elan und Enthusiasmus das Ruder an mich – ich fahre in eine Shopping Mall oder gehe in ein völlig überfülltes Freibad – um es dann wieder ganz schnell abgeben zu können. Viele meiner Freundinnen oder sogar Evans Therapeuten fragen mich, warum ich mir diesen Stress immer wieder antue und nicht einfach mit ihm zu Hause bleibe. Aber ich möchte mich nicht völlig zurückziehen. Auch wenn gewisse Situationen stressig sind, überwiegt noch immer der Moment. Und solange das so bleibt, werde ich auch weiterhin nach Italien in den Urlaub fahren und nicht nach Schweden.

Trotz all dieser Einschränkungen könnte ich mir mein Leben mittlerweile nicht mehr anders vorstellen. Durch Evans Erkrankung habe ich einzigartige und ganz besondere Menschen kennengelernt, die ich mit einem gesunden Kind nie kennengelernt hätte und dafür bin ich sehr dankbar. Ich wurde schon oft gefragt, ob ich mir nicht ein gesundes Kind wünschen würde. Ich kann diese Frage gar nicht beantworten. Natürlich würde ich mir wünschen, dass Evan gesund ist. Aber so ist es nun einmal nicht. Und sich sein Kind anders vorzustellen? Das kann und will ich nicht!


Hast du das Gefühl, dass die Gesellschaft, die Politik, Menschen mit behinderten Kindern ausreichend unterstützt? Was müsste deiner Meinung nach besser werden?

Meinem Sohn sieht man seine Behinderung nicht an. Evans Behinderung wird oft als ungehorsam oder einfach nur als frech abgestempelt. Egal, ob ich einkaufen, auf den Spielplatz, zu einer Hochzeit, in die Stadt, ins Café oder ins Schwimmbad gehe. Überall fallen wir auf und werden gleich erkannt. Erkannt als nicht ins System passende Menschen. Ich muss zugeben, dass das auch nicht schwer ist. Wir betreten einen Raum und es wird schlagartig laut bzw. lauter. Evan bleibt nicht an der Hand und ist generell sehr schwer lenkbar, wenn viele Leute um ihn herum sind und er keine Begrenzung mehr hat. Ich habe fast immer unseren Hilfsbuggy dabei, allerdings kann ich ihn mittlerweile nicht mehr so oft überreden, sich freiwillig dort hineinzusetzen und bei fast 20 Kilo Gewicht ist es ohne seine Zustimmung nicht einfach, ihn dort hineinzusetzen. Evan kann kaum bzw. gar nicht sprechen. Er lautiert sehr viel und versucht auch nachzusprechen, oftmals versteht er aber die Bedeutung des Wortes nicht. Wir haben also fast keine Möglichkeit zu kommunizieren, außer unsere Gebärden und Bildkarten. Bis jetzt versteht Evan ein paar einzelne Gebärden sowie Bildkarten.

Mit Evan an normalen Gruppenaktivitäten teilzunehmen ist außerordentlich schwierig, weil er sich einfach anders verhält. Dieses Verhalten erfordert viel Verständnis und Toleranz. Das Thema Inklusion ist für mich schwierig. Meistens hört es sich in der Theorie sehr gut an, im alltäglichen Leben kann ich es aber leider nicht ausleben. Wenn ich ehrlich bin, ist es mir schlichtweg zu anstrengend oder zu anstrengend geworden. Ich ziehe Sportgruppen für Behinderte oder Behindertencafés mittlerweile vor, dort fühle ich mich wohler. Das mag nicht richtig sein. Ich finde Inklusion toll und richtig, wenn sie funktioniert. Ich merke, dass Mitmenschen auf Personen mit gut sichtbarer Behinderung anders reagieren als auf Menschen, bei denen man es nicht sofort erkennt. Ich kann nachvollziehen, dass es am Anfang irritierend und schwierig nachzuempfinden ist, aber ich kann und möchte mich nicht ständig rechtfertigen. Ich lebe mit Evan alleine. Es erfordert höchstes Organisationstalent, alle Termine, den Haushalt, die Therapien und meinen Beruf unter einen Hut zu bekommen. Ich würde mir von der Politik mehr Unterstützung bezüglich der Kinderbetreuung wünschen. Zudem habe ich bis dato auch noch keinen Sportverein gefunden, der Evan aufnehmen könnte bzw. würde und das macht mich traurig. Abschließend möchte ich erwähnen, dass wir trotzdem noch gerne einkaufen, ins Schwimmbad oder ins Café gehen. Evan und ich lieben das Leben, denn das Leben ist schön!


Was hast du durchs Muttersein über dich und die Welt gelernt, das du vorher nicht wusstest? 

Wie bedingungslos, ehrlich und rein Mutterliebe ist.

Ein Gegenstand deiner Kinder, den du ewig aufbewahren wirst?
Evans Gitarrensammlung – inklusive Klobürste, Handfeger und Bratpfannen.

Vielen herzlichen Dank, Marcella. Alle anderen Mutterfragebögen sind hier nachzulesen.

5 Kommentare:

  1. Was ich schön finde am Interview: Das so viel Humor drin steckt! (siehe Gitarrensammlung).
    Danke für das tolle, mutmachende Gespräch!

    Ich weiß nicht wie weit weg das Dorf bei Bremen ist - aber Werder Bremen hat inklusive Sportgruppen als Tipp.
    LG Nanne

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  2. Kein leichtes aber trotzdem ein gutes Leben...Danke für das beeindruckende Interview und auch für den Satz von Campbell.
    LG Karoline

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  3. Liebe Marcella,
    du schreibst einen sehr berührenden Blog. Die Geschichte mit der Dame im Supermarkt hat mich zu Tränen gerührt. Es ist sicher nicht leicht, jeden Tag eine Festung zu sein: gerüstet gegen die Blicke und Meinungen der anderen. Ich wünsche dir viel Kraft - und viele Damen!

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  4. Wow, ein toller Beitrag und wahnsinnig interessant.
    Ich kann mir gut vorstelllen, dass die Gesellschaft dein Leben nicht leichter macht.
    Gerade weil man deinem Kleinen seine Behinderung nicht ansieht.
    Ich fasse mich jetzt mal selbst an der Nase und versuche zuküntig noch offener zu leben.
    Ich finde dich klasse!
    Liebe Grüße
    Jutta

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